NN: Wie erklären Sie sich die schwache Leistung der deutschen Nationalmannschaft bei der WM?
Graß: Ich glaube, dass es viel komplexere Gründe für den letztendlich enttäuschenden 11. Platz gibt als nur den Verweis auf die mangelnde Spielpraxis von deutschen Handballern in der Bundesliga, der stärksten Liga der Welt. Was wäre denn gewesen, wenn Deutschland das Vorrundenspiel gegen Spanien gewinnt, was durchaus möglich gewesen wäre? Mit zwei Pluspunkten in der Zwischenrunde geht man mental ganz anders an die Aufgaben gegen Ungarn und Norwegen heran. Dies soll aber die offensichtlichen Defizite der deutschen Mannschaft hinsichtlich Tempospiel, Kreativität, mentaler Stärke und echtem Teamgeist nicht entschuldigen. Die unbequeme Frage, die man sich beim DHB stellen muss, lautet: „Haben wir solche Spieler nicht, oder passen sie nicht in die von Heiner Brand bevorzugte Spielphilosophie?“
NN: Können Sie die Entscheidung von Heiner Brand nachvollziehen, der nach 14 Jahren im Amt an eine Auflösung seines bis Juni 2013 laufenden Vertrag nachdenkt?
Graß: Diese Überlegung ist mehr als nachvollziehbar. Heiner Brand ist ein sehr verantwortungsbewusster Mann, der sicher auch erkennt, dass sowohl er persönlich, als auch der deutsche Handball einen neuen Impuls braucht. Den kann man als Trainer einer Mannschaft nur geben, wenn man mental frisch und mit Enthusiasmus bei der Sache ist. Ich finde es aber sehr vernünftig und anerkennenswert, dass er sich für die anstehenden Qualifikationsspiele zur Verfügung stellt und nicht mit einem kurzfristigen Rücktritt den deutschen Handball in noch größere Schwierigkeiten bringt.
NN: In Vereinen wie dem SV 08 Auerbach wird viel Wert auf die Jugendarbeit gelegt. Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass trotzdem offenbar der „Unterbau“ für die Nationalmannschaft fehlt?
Graß: Der Sprung aus der Jugend in eine Vollmannschaft ist bereits auf unserem Niveau schwierig, umso schwieriger in der Weltspitze. Insbesondere dann, wenn die Situation es nicht erlaubt, Fehler - die es bei jungen Spielern immer geben wird – zu tolerieren, weil es um Meisterschaft oder Abstieg und damit im Profibereich um Existenzen von Trainern und Spielern geht.
Aber ohne Spielpraxis auf Top-Niveau gerade im Alter zwischen 18 und 20 Jahren fehlen wichtige Erfahrungswerte, um in den „besten Handballjahren“ zwischen 25 und 30 Jahren erfolgreich zu spielen.
Eine Konsequenz daraus wäre für den deutschen Handball eine „neue Generation“ der Nationalmannschaft aufzubauen, die vielleicht über drei bis vier Jahre keine zählbaren Erfolge bei handballerischen Großereignissen erzielt, sich dafür aber danach wieder in der Weltspitze etabliert.
Interview: BRIGITTE GRÜNER